
Wofür lebe ich?
Sinnerkennung ist Selbsterkennung. Wer keinen Sinn im Leben finden kann, hat sich selbst verloren. Wir alle stellen uns, je nach Befinden, mal mehr oder mal weniger die Frage: Was ist für mich der Sinn des Lebens? Warum lebe ich?
Viele sagen, man kann niemals eine allgemeingültige Aussage darüber machen, was der Sinn des Lebens ist. Und dem stimme ich zu. Jeder Mensch gibt seinem Leben einen ganz eigenen Sinn. Die einen wollen lernen, wachsen und erkennen, die anderen lediglich auskosten, lieben und genießen. Manche wollen etwas geben und hinterlassen, und andere wiederum etwas erleben, erkunden oder erfahren.
Trotzdem glaube ich, dass es einen übergeordneten Sinn gibt, der alle eben genannten Daseinswünsche miteinander vereint, was bedeutet, dass man sie letztendlich gar nicht wirklich voneinander trennen kann. Durch all diese einzelnen Sinngebungen verfolgen wir dasselbe, ob wir das nun merken oder nicht. Alles Streben und alles Erleben läuft immer darauf hinaus, sich selbst und seine Möglichkeiten kennenzulernen. Wer oder was bin ich in dieser Welt? Was kann ich sein?
Durch die Auseinandersetzung mit dem Außen lernen wir unser Inneres kennen und verstehen. Niemand weiß, welche Potenziale in uns inaktiv vor sich hin schlummern, bis sie geweckt werden.
Wollen wir wissen, wer wir sind, was in uns steckt und welche Werte wir verfolgen wollen, um ihnen Ausdruck zu verleihen, müssen wir durch Höhen und Tiefen gehen. Kein Fluss fließt gerade. Manchmal werden schlummernde Potenziale nämlich erst aktiviert, wenn wir etwas sein müssen, um zu überleben, wenn der Fluss die Umleitung nehmen muss, weil sich ihm etwas Unerwartetes entgegen stellt und der gewohnte Weg damit versperrt ist. Umwege erhöhen die Ortskenntnis und fordern uns heraus, damit wir beweglich und flexibel bleiben und nicht einrosten.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ergibt sich von daher oft erst aus der Frage nach dem Sinn des Leidens.
Von Nietzsche kommt der Satz: „Wer ein WARUM zu leben hat, erträgt fast jedes WIE". Wer sich diesem WARUM stellen muss, ist bereit umzudenken. Sich neuen Gedanken gegenüber zu öffnen befähigt einen, diese Welt und damit sich selbst, besser kennenzulernen und immer wieder mit anderen Augen zu sehen. Wir sind Geist im Geiste und damit aus demselben Stoff gemacht wie unsere Gedanken und Gefühle. Wenn sich das Individuelle nur aus dem Göttlichen herauskristallisiert hat, dann ist die Seele der Diamant in der Mitte, der sich nun einem Feinschliff unterzieht. Schmerz gehört zum Leben dazu. Ihm entrinnen zu können, indem wir innerlich aussteigen, halte ich für nicht dauerhaft haltbar. Wir leben und nehmen damit am Spiel des Lebens teil. Im reinen Sein dagegen findet keine Lebendigkeit statt. Die Aussage, dort sei alles gut, ist deshalb für Trauernde und Schwerstkranke, die unerträglichem körperlichen oder seelischen Schmerz ausgesetzt sind, Fluch und Segen zugleich.
Einerseits sehnt man sich nach Dissoziation, und der Glaube an eine Welt, in der alles gut ist, gibt Hoffnung, gleichzeitig ist einem aber auch klar, dass es unmöglich ist, dahin zu gelangen, solange man an den Körper und damit die Einschränkung gebunden ist. Was nutzt es mir, zu wissen, dass man einen Bewusstseinszustand erreichen kann, in dem es kein Leid mehr gibt, während in mir gerade die Welt untergeht? Ich kann Licht einfließen lassen. Das erleichtert und tröstet ein wenig. Dieses Licht macht aber nichts ungeschehen, es verändert allenfalls meine Sicht. Solche Aussagen wie die, dass eigentlich alles nur Illusion ist, verletzen dann nur, weil die Realität aus unserem menschlichen Erleben heraus so nicht wahrgenommen wird. Wer mitten im irdischen Leben steht, und das tut unsere Seele, denn sie verkörpert es, kann aus dem Spiel nicht einfach so aussteigen. Wenn ich eingesperrt bin, kann ich mich am Blick aus dem Fenster mehr erfreuen als am Blick gegen die Wand, aber es nimmt mir im Moment nicht das Leid, wenn jemand draußen herum hüpft und sagt: Du musst doch nur ...
Wir haben immer beides in uns, Freude und Schmerz. Einen Teil davon abzulehnen erzeugt noch mehr Schmerz. Jeder Leidende, der hört, Schmerzen bräuchten wir nicht, und sie seien selbst iniziiert durch die Unfähigkeit, das Leben richtig zu begreifen, erhält eine verbale Ohrfeige. Mir hat sich das Leben andere erklärt. Ich habe diesen unsäglichen Schmerz in mir, und er trägt mich von Stufe zu Stufe. Dafür bin ich ihm dankbar, obwohl ich natürlich auch lieber ohne ihn wäre. Aber wäre ich dann die geworden, die ich jetzt bin? Wohl nicht!
Keiner von uns kann sich den lieben langen Tag meditierend in die Ecke setzen und dem reinen Seinszustand frönen. Ich glaube auch, dass man sich nicht hätte inkarnieren müssen, wenn man das als den wahren zu erreichenden Zustand ansieht. Meiner Meinung nach kommen wir genau daher und hätten sicherlich auch genauso gut mit unserem Bewusstsein da bleiben können, wo wir waren, wenn wir nur Ruhe und Frieden bräuchten. Etwas in uns verlangt nach mehr - nach Abenteuern. Niederlagen lassen Freude erkennen, Trennung öffnet den Blick für Verbindung, Licht erkennt sich nur in der Dunkelheit. Gerade haben wir die kalte und dunkle Jahreszeit um uns, aber nie ist es zu Hause so gemütlich wie jetzt, wo wir uns nach innen wenden, um auszuruhen – falls wir das tun.
Neulich las ich einen Spruch von Karl Valentin: „Wenn die stille Zeit vorüber ist, wird es auch wieder ruhiger.“
Wir nehmen die Welt nicht nur verdreht wahr, wir verdrehen sie noch zusätzlich, und das ist sehr schade. Das Wesentliche wird nur von wenigen Menschen wahrgenommen.
Aber um zurückzukommen auf die dissoziative, rein geistige Sichtweise:
Nichtbetroffene legen oft eine Arroganz und Selbstgefälligkeit an den Tag, die sehr verletzend ist. Wenn sich jemand damit brüstet, den reinen göttliche Zustand erreichen zu können, in dem alles gut ist, geht ihm schnell der Respekt vor dem Schmerz der anderen verloren, die gerade nicht dort sind. Hierzu gibt es einen schönen Songtext von Bryan Ferry, der heißt:
WALK A MILE IN MY SHOES
If I could be you and you could be me for just one hour
If we could find a way to get inside each other's mind
If you could see you through my eyes, instead of your ego
I believe you'd be surprised to see, that you'd been blind
Walk a mile in my shoes
Walk a mile in my shoes
And before you abuse, criticize and accuse
Walk a mile in my shoes
Now your whole world you see around you is just a reflection
And the law of karma, says you reap, just what you sow
So unless you've lived a life of total perfection
You'd better be careful of every stone that you should throw
Refrain: Walk a mile in my shoes ...
And yet we spend the day throwing stones at one another
'Cause I don't think or wear my hair the same way you do
Well, I may be common people but I'm your brother
And when you strike out and try to hurt me it's a-hurtin' you
Refrain: Walk a mile in my shoes ...
There are people on reservations and out in the ghettos
And brother, there but for the grace of God, go you and I
If I only had the wings of a little angel
Don't you know I'd fly to the top of the mountain and then I'd cry
Refrain: Walk a mile in my shoes...

Wir leben nun mal in einer gespaltenen Welt. Nicht Auflösung, sondern Bewegung ist der Weg und gleichzeitig das Ziel. Wer sagt, es gäbe keine Wege, spricht von einer anderen Welt als derjenige, der gerade seiner Wege geht. Aber das eine bedingt das andere und keine dieser beiden Welten existiert getrennt für sich. Das ist nämlich die wirkliche Illusion – nur die Hälfte wahrzunehmen.
Darum ist auch egoistisch, die Welt aus der rein geistigen Bewusstseinsebene, welche uns als Navi dient und Orientierung gibt, zu betrachten. Die wahre Kunst ist in meinen Augen, aus beiden, der dunklen und der hellen, zugleich zu schauen. Gleichzeitigkeit bedeutet Ganzwerdung. In der Gesamtsumme ist beides eins. Die Verschmelzung, die wir Mitte nennen, ist alles, was es gibt.
Das Leben - eine nie endende Entdeckungsreise
Ich glaube, dass wir alle in dieses Leben getreten sind, um an, in und durch uns selbst zu wachsen, indem wir uns erkennen und diese Erkenntnisse zu nutzen, um schöpferisch etwas davon in die Welt zu geben, und um genau das wieder zurück zu bekommen, damit wir wissen, wie es sich anfühlt. Das ist der Kreislauf. Ich sehe die physikalische Welt als Experimentierfeld unseres Bewusstseins, als Spielfeld für die Seele. Hier kann sie ein Gedankenmuster verkörpern und mit Hilfe dieser Voraussetzung bzw. ihrer spezifischen Ausrichtung durch eine mehr oder weniger gedanklich festgelegte Realität wandern. Wenn das Leben mit dem Ende des physischen Körpers nicht aufhört, wovon ich ausgehe, geht Leben in anderen, nichtphysischen Dimensionen weiter. Wir sterben jede Sekunde, sowohl auf zellulärer als auch gedanklicher Ebene vom Alten ins Neue. Vielleicht kann sich das Bewusstsein als reines Gewahrsein und Beobachter zur Entspannung jederzeit rausnehmen und keinem Gedanken mehr folgen, weder positiven noch negativen, wodurch es völlig neutral in Frieden und Stille verbleibt, aber das Streben nach weiterer Ausschöpfung des unendlichen Potenzials und der Ausdrucksverleihung des Ganzen scheint dann doch interessanter zu sein und dafür zu sorgen, dass Bewusstsein wieder aus dem Nichts nach außen in die Lebendigkeit tritt, welche eine selbst geschaffene Realität und Erlebniswelt ist. Erst in Verbindung mit dem Nichts kann es überhaupt erst existieren. Da es sich hierfür von sich selbst trennen muss, ist Leben immer unvollkommen und unbefriedigend. Das ist der Motor und Antrieb für Bewegung. Stillstand ist nicht Leben.
Die Unvollstängigkeit kommt dadurch zustande, dass Leben unendlich ist. Und gleichzeitig treibt Unzufriedenheit das Rad des Lebens erst an. Dieses System hält sich selbst am Laufen, weshalb es Menschen gibt, die sagen, Gott bräuchte es nicht.
Wie dem auch sei, alles ist Definitionssache. Auf jeden Fall gibt es kein Ende und kein Ankommen, sondern nur unendlich viel zu entdecken! Warum also nicht hineinstürzen ins Leben? Schmerz schubst den trägen Geist an, weiter zu forschen. Als Transformator spielt er die wichtigste Rolle überhaupt in diesem Spiel. Er treibt uns dazu an, mehr von dieser Welt und damit von uns selbst, die wir ja diese Welt verkörpern, entdecken und erfahren zu wollen, und das kann ja nicht verkehrt sein. Je mehr wir wahrnehmen können, desto mehr können wir auch sein. Und Mensch geworden zu sein ist schon sehr viel!!
Schmerz kann, muss aber nicht lähmen. Wer das Spiel durchschaut, wird mit ihm irgendwann umgehen können. Gut zu wissen, dass es das innere Gleichgewicht gibt, manchmal brauchen wir diese Dissoziations- und Ausstiegsmöglichkeit, auch wenn hier kein Strom fließt. Im Kern sind wir zwar unbeweglich, aber auch unverletzlich. Zu bemerken, auch ohne all die gespielten und nicht gespielten gedanklichen Geschichten immer noch zu sein, muss himmlische Gefühle hervorrufen. Und das heilt. Je mehr wir erkennen, was hinter dem Schauspiel liegt, desto ungezwungener und weniger ängstlich stürzen wir uns ins Leben. Angst blockiert und verhindert die Entfaltung unseres wahren Potenzials. Herausforderungen zu bearbeiten aber macht uns groß, stark und vor allem weise.
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